von Norbert Rau

Dreitausend und dreiunddreißig Bahnstadttage

Am 20. August war der Stadtteilverein Bahnstadt 3000 Tage lang für die Menschen in der Bahnstadt initiativ. Mit dieser letzten und 88. Ausgabe der Bahnstadt Info wagt Dr. Norbert Rau ein Résumé der bisherigen dreitausend und dreiunddreißig Tage.

 
Dass man das Werden eines Stadtteils im Sinne seiner Menschen beeinflussen kann, beweisen die Aktiven im Stadtteilverein Bahnstadt e.V. seit über 3.000 Tagen. Seit der Gründung des „Bahnstadtvereins“, wie er von vielen nur noch genannt wird,  gestalten sie die Lebensumgebung für sich und viele andere mit. Mit Ideen, Anregungen, Vorschlägen, Kritik und manchmal auch vehementen Einsprüchen wurde viel erreicht. Nicht alles, aber weitaus mehr als viele erwartet haben.
 
Dabei sind es nicht nur die öffentlichkeitswirksamen Themen, mit denen der Bahnstadtverein den Menschen in der Bahnstadt das tägliche Leben erleichtert hat. Es sind auch die ganz stillen, banalen, eher uninteressanten, die er dennoch umso hartnäckiger verfolgt hat. Vorstandsvertreter und aktive Mitglieder haben durch ihre Teilnahme an vielen Stadtteilbegehungen, Bür­ger­beteiligungen, Bürgerwerkstatt, OB-Sprechstunden oder problembezogenen Debatten mit zahlreichen Ideen und Vorschlägen dafür gesorgt, dass wir wir uns heute über kleinere und größere Verbesserungen im Alltag freuen können. Sie werden als selbstverständlich hingenommen, aber es war oft mühsam und langwierig, sie anzustoßen und zu verwirklichen. Dazu zählen Kleinigkeiten, wie die Markierungen der Rad- und Fußgängerhälften der Promenade, die wieder erneuert werden müssten, die Fahrbahnmarkierung „Vorsicht Kinder“ vor der Kita an der Schwetzinger Terrasse, zusätzliche Abfallbehälter an kritischen Stellen, oder der ständige Kampf mit sich widersprechenden Verkehrsschildern, Absperrungen und Bauzäunen am Anfang der Bahnstadt-Genese. Auch mit dem öffentlichen Personennahverkehr, mit Park- und Verkehrsproblemen auf dem Langen Anger und in den Neben­straßen einschließlich der Sicher­heit für die Kinder, mit der Telekommuni­kations­infrastruktur, und mit Kriminalprävention beschäftigte sich der Verein, ebenso wie mit der Gestaltung der im Corona-Sommer erstaunlich bevölkerten Grünanlagen, die nach vollständigem Ausbau einer Fläche von 19 Fußballfeldern entsprechen sollen.
 
Kommunikativ wurden diese Themen mit sogenannten Stammtischen in die Bahnstädter Öffentlichkeit getragen, die später „Themenabende“ genannt wurden: Heizkostenoptimierung, Trink­wasser­qualität, Internetanbindung, Straßen­bahnführung, Tigermücke, Car-Sharing, Sportangebote, Bürger­engagement, Grünflächen, Urban Gardening, Nahversorgungszentrum, Brandschutz, Betriebskosten im Passiv­haus, „Family Literacy“ und vieles mehr.
 
Gleich nach der Gründung im Sommer 2012 setzte sich der Verein dafür ein, dass die Halle02 nach der Sanierung der ehemaligen Güterhallen erhalten bleibt, was 2013 auch vom Stadtrat beschlossen wurde. Die Betreiber revanchierten sich, indem sie eine Zeitlang eine Verkaufsstelle für Brötchen, Gemüse und Obst organisierten, denn für beides mussten die hier Wohnenden kilometerweit fahren, was man sich heute kaum noch vorstellen kann. Später wurden die frischen Samstagsbrötchen temporär vom „Kaffeezimmer“ organisiert, welches jetzt Café del Mundo heißt.
 
Auch dass es seit 2015 einen - trotz gestiegener Bewohnerzahl leider immer noch schlecht besuchten - Wochenmarkt gibt, wurde bereits 2012 von Vorstandsmitgliedern initiiert, denn hierfür musste die Stadt Heidelberg nicht nur überzeugt werden, sondern auch Anschlüsse für Wasser und Strom und eine öffentliche Toilette bereitstellen. Rund drei Jahre, nachdem die ersten in ihre neuen Wohnungen eingezogen waren, gab es in diesem neuen Stadtteil also erstmals eine Versorgung mit Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch, Eiern, Käse und Brot. Dank der Initiative von Vereinsmitgliedern.
 
Eine Initiative ganz anderer Art waren lange Verhandlungen mit dem benachbarten Tierheim, um die Lärmbelästigung der südlich Wohnen­den durch Hundegebell zu reduzieren. Mit beratender und finanzieller Unterstützung der Stadt Heidelberg und einer vom Verein durchgeführten Spendenaktion konnten die Hundezwinger so umgebaut werden, dass der Lärm erheblich reduziert wurde, auch wenn man in diesem Sommer nicht unbedingt diesen Eindruck hatte.
 
Neben Tierheim und Feuerwache war ursprünglich mal ein regionales Ret­tungs­zentrum mit Hubschrauber­landeplatz angedacht - wer erinnert sich noch? Über 100 Bäume sollten gefällt werden und der Bahnstadtverein ist ganz vehement gegen diese glücklicherweise sehr kurzlebige Idee eingeschritten.
 
Willkommen geheißen haben die Mitglieder Anfang 2015 dagegen das neue Konferenzzentrum - als die Bahnstadt noch auf Rang 67 oder 68 der Vorschlagsliste möglicher Standorte lag. Also ganz hinten. Monatelang haben Vorstand und interessierte Mitglieder mit guten Argumenten bei den Bürgerbeteiligungen, mit Presse­arbeit und vielen persönlichen Gesprächen das Votum der Vereinsmitglieder umgesetzt und den Standort Bahn­stadt solange Schritt für Schritt auf die ersten Plätze der Liste bewegt, bis die Argumente Ende April 2016 schließlich gesiegt haben.
 
Ein schönes Beispiel für die konstruktive Mitgestaltung des Bahnstadtvereins liefert der derzeit im Bau befindliche Bahnhofsvorplatz Süd, der zukünftig Europaplatz heißen soll. Die Planung sah hier eine zickzackförmige Rampe als südwestlichen Abgang des Querbahnsteigs vor, der mit einer Verengung von über 60% nicht nur eine Gefahr bei einer Evakuierung, sondern auch eine vertane Chance für eine optisch-ästhetische Anbindung des Hauptbahnhofs an die Bahnstadt und das Konferenzzentrum dargestellt hätte.
 
Die Argumente des Vereins waren so überzeugend, dass man zukünftig ebenerdig und geradeaus vom Querbahnsteig am Konferenzzentrum vorbei in die Bahnstadt laufen kann. Hierfür musste eines der Gebäude umgeplant werden. Zukünftige Pendler werden sich darüber freuen können, sich aber kaum erinnern, dass sie dies einer Handvoll aktiver Vereinsmitglieder zu verdanken haben, die nicht locker ließen mit ihren Argumenten.
 
Die Liste der verhinderten Vorschläge oder modifizierten Pläne - wer erinnert sich noch an den Vorschlag einer Straßenbahntrasse durch Gadamerplatz und Pfaffengrunder Terrasse? - soll hier nicht weitergeführt werden, um nicht einen falschen Eindruck zu vermitteln. Dass es bei der Planung eines solchen Großprojektes zu Fehleinschätzungen, Umplanungen und Neuplanungen kommt, die sich in der gelebten Praxis anders darstellen als am Computer, ist normal. Gerade deshalb war und ist der Bahnstadtverein mit seinem konstruktiven Input gefragt. Auch die Arbeit einiger Mitglieder im Bezirksbeirat trägt hierzu bei.
 
Mit zunehmendem Werden der Bahn­stadt und größer werdender Wohn­bevölkerung rückte der Fokus des Vereins weg von der Mitgestaltung von Infrastruktur und Baumaßnahmen hin zu den zunehmend wichtiger werdenden Aspekten des Zusammenlebens und der Gemeinschaft. Kleinere und größere Feste rückten in den Fokus - in diesem Jahr aber leider nicht. Das Bahnstadtfest, früher auch Sommerfest genannt, ist mit mehreren tausend Besuchern natürlich ein Highlight, aber auch der Martinsumzug, die Adventsfeier für die Senioren, der Weihnachtsmarkt, das Weihnachtsfest für die Mitglieder. Monatlich finden Mitgliedertreffs statt, jetzt auch virtuell. Das Promenadenfest, bei welchem Selbstgebackenes oder -gegrilltes mit Getränken über die Mauer an die jedes Jahr zahlreicher werdenden Besucher zum Gestehungspreis verkauft werden, wird von Mitgliedern „inoffiziell“ organisiert.
 
Auch andere Aktivitäten sind auf die Initiative von Mitgliedern zurückzuführen, teils offiziell vom Verein getra­gen, teils inoffiziell unterstützt, z.B. Fahrradtouren und Ausflüge, Lauftreffs, darunter auch der Nikolas­zipfelmützenlauf, Bahn­stadt­frühstücke, kulinarische Spazier­gänge, Weinproben, das Repair Café, Malkurse, Fotokurse, Weihnachts­päckchenaktionen oder die Aktionen von BahnstadtAktiv und die Konzerte von BahnstadtLive. Es ist erstaunlich, welche Vielfalt an einzelnen Aktivitäten durch die Initiative einzelner Mitglieder zustande gekommen ist.
 
Auch der Bahnstadtchor „Abgefahren“ und der Kinderchor „Die kleine Bimmel­bahn“ waren anfangs einzelne Initiativen. Ebenso wie diverse Kita- und Grundschulaktivitäten, z.B. die Initiative zur Her­stellung, Bemalung und Aufstellung von Kinder-Attrappen an den Spiel­plätzen oder Straßenmalaktionen und Kinder­mal­feste, Bastelaktionen und Floh­märkte. Viel kommt in Zusammenarbeit oder auch nur koordiniert mit den Kitas, der Grundschule oder Initiativen zustande, die sich spontan aus Bewohnerinteressen gebildet haben.
 
Viele der kleineren Veranstaltungen gab es anfangs im „Bahnstadttreff LA 33“, in dem sich jetzt eine Kinderarztpraxis befindet. Nach Fertigstellung des Bürgerzentrums war einerseits Platz für Anspruchsvolleres, anderseits musste sich der Bahnstadtverein auch um den Betrieb desselben kümmern, nach wenigen Monaten schon sehr erfolgreich und wirtschaftlich, vom laufenden Corona-Jahr einmal abgesehen.
 
Es gab und gibt viele, die im Stadtteilverein immer wieder die Initiative ergriffen haben, um aktiv Aufgaben anzupacken, die allen anderen in der Bahnstadt dienen. Es gibt aber noch mehr, die den Bahnstadtverein als Dienstleister missverstehen und sagen „Der Stadtteilverein müsste mal…“ - die „mystischen Bahnstädter“, wie ich sie einmal genannt habe. Mit diesem ganz sicher nicht vollständigen Rückblick möchte ich Mut machen, die Dinge lieber selbst in die Hand zu nehmen, denn dann ist die Chance größer, dass etwas daraus wird, wie man es sich vorgestellt hat. Der Bahnstadtverein ist hierfür Plattform, Unterstützung und Sprachrohr. Und Mitstreiter lassen sich im Verein für jedes Projekt finden, das der Gemeinschaft dient.
 
Gerade jetzt, wo die Bahnstadt versucht, zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückzufinden, ist noch mehr Input gefragt. Jetzt, wo die Einwohnerzahl fast ihren Endstand erreicht hat, ist auch die Anonymität größer geworden, hat das Unpersönliche der großen Zahl an Gewicht gewonnen. Wünschenswert wäre ein Gegengewicht, welches den Geist der Gemeinschaft belebt und hier sind Ideen und Initiativen hoch willkommen. (nr)
 
 

2012: Die ersten »Einzügler« werden sich noch an die unsäglichen Ansammlungen von Verkehrs­ und Hinweisschildern und Absperrzäunen erinnern. Pionier sein war nicht einfach!

2013: SkyLabs im Schnee (»Schnee, was ist das?«) und jede Menge freie Baufläche drumherum. Ein historisches Foto...

2015: Einmal im Jahr die Bahnstadt von Unrat befreien, der sich im Lauf der Monate an für die Stadtreinigung schlecht zugänglichen Stellen angesammelt hat ­ fiel im Corona­Jahr leider aus.

2015: Und plötzlich hat die Bahnstadt ihren Wochenmarkt. Für einige Zeit die einzige Nahversorgung mit Lebensmitteln

2016: Kinder schützen Kinder. Von einer Schreinerei gespendet und ausgesägt, machen diese von Bahnstadtkindern bemalten Holzkinder (meist) eilige Radfahrer auf die Gefahrenlage aufmerksam.

2019: Flohmärkte, wie hier beim Bahnstadtfest 2019, sind immer wieder gut besucht und werden von Bahnstädter Eltern und Kindern organisiert.

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